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N O T I Z E N  Z U R  C O R P O R A T E   C U L T U R E / 9

Singularitäten und Unternehmenskulturen

Wer sich mit dem Thema Digitalisierung nicht nur auf der operativ-technischen Ebene beschäftigt, sondern auch die kulturelle Dimension einbezieht, trifft früher oder später auf einen seltsamen Begriff, genauer: auf dessen seltsame Anwendung.

Singularität.

Das Modewort hat ursprünglich zwei Bedeutungen, Vereinzelung und Einzigartigkeit. Beide sind für unsere Unternehmenskulturen relevant, wenngleich in unterschiedlicher Weise.

In einer technologischen Konnotation wurde Singularität zuerst 1965 vom britischen Mathematiker und Computer-Entwickler I.J. Good, während des 2. Weltkrieges Mitarbeiter in Alan Turings Enigma-Team, benutzt. Good meinte damit den Wendepunkt, an dem „die erste ultraintelligente Maschine“ zugleich „die letzte Erfindung ist, die der Mensch zu machen hat.“

Für Raymond Kurzweil und die anderen heutigen trans- und posthumanistischen Propheten steht „Singularity“ für ihren Traum von der Lösbarkeit aller Weltprobleme (einschließlich der ärgerlichen Sterblichkeit des Menschen) durch Technik. Die Transzendenz des Biologischen ins Technische, die übermenschliche Maschine als Vollendung der Evolution – das ist die rationalistische Erlösungsphantasie der digitalen Freaks.

In der nüchternen betriebswirtschaftlichen Realität interessieren die philosophischen Dimensionen der künstlichen Intelligenz naturgemäß erst einmal weniger. Allerdings definiert unser Verständnis vom Verhältnis Mensch-Maschine letztlich das Menschenbild, das wir – bewusst oder unbewusst – unserem Führungshandeln und unserer Kommunikation insgesamt zugrunde legen. Aber nicht nur unser Blick auf die Mitarbeiter, auch der auf die anderen Stakeholder verändert sich, je nachdem, ob wir in Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung „nur“ eine (disruptive) Technologie im Dienste der Menschheit sehen oder sie als neue Gottheit anbeten wollen.

Ohnehin kollidiert ja die reine Macher-Logik immer stärker mit Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Unternehmers für seine Produkte und Geschäftsmodelle. Bei Themen wie Virtual Reality, Internet of Things  oder Big Data sehen sich Anbieter zunehmend mit ethischen und politischen Herausforderungen konfrontiert. Die aktuellen Diskussionen über, z.B., autonome Fahrzeuge, „Predictive Policing“ oder den Missbrauch Sozialer Netzwerke mögen als Beleg dienen.

Singularität dient neuerdings auch zur Beschreibung eines sozialen Phänomens. Wiederum spielen dabei beide Bedeutungen, Vereinzelung und Einzigartigkeit, eine Rolle. In seiner 2017 erschienenen Untersuchung skizziert der Soziologe Andreas Reckwitz die „Gesellschaft der Singularitäten“ als einen zunehmend unwirtlichen Ort, zumindest für die zwei Drittel der Menschen, die sich von der Globalisierung und Digitalisierung hierzulande eher bedroht als beflügelt fühlen. Nun gibt es ja seit Jahren ähnliche Einschätzungen – bezogen auf die Internet-Wirtschaft z.B. die „Long Tail“-Hypothese von Jaron Lanier (Spitzengewinner ziehen einen langen Schwanz von Verlierern hinter sich her). Neu an Reckwitz’ Sicht ist, dass die kulturellen Unterschiede stärker zur Singularisierung (also Spaltung) der Gesellschaft beitrügen als die ökonomischen Verhältnisse.

Dass die Aufstiegs-Ambitionen oder Abstiegs-Ängste der Menschen vor allem kulturell aufgeladen sind, könnte ein guter Erklärungsansatz für das Scheitern politischer Kampagnen sein, die in materieller Ungleichheit den sozialen Sprengsatz sehen. Nicht die „skandalösen Managergehälter“ wären demnach das Problem, sondern der von den Resten der (alten) nivellierten Mittelstandsgesellschaft als bedrohlich erlebte „cultural gap“, eine tiefgreifende Entfremdung gegenüber der (neuen) kosmopolitischen Elite.

Wenn die soziologische Analyse stimmt, wenn sogar – was Reckwitz nahelegt – die überwunden geglaubte hierarchische Klassengesellschaft unter kulturellen Vorzeichen wiederkehrt, hätte das in der Tat gravierende Auswirkungen, nicht zuletzt auf die Mitarbeiterbindung. Das, was die spezifische Kultur, also die Identität eines Unternehmens ausmacht, wird ja durch etwaige Werte-Verschiebungen bei den Mitarbeitern massiv beeinflusst. Erstaunlicherweise werden die gegenwärtigen, umwälzenden Veränderungen, die meist unter dem Begriff Digitalisierung zusammengefasst werden, bisher unter diesem Aspekt noch kaum wahrgenommen. Wir müssen also nicht nur fragen: Wie verändert die Digitalisierung unsere Märkte, Produkte, Prozesse? Sondern auch: Was macht der technisch-gesellschaftliche Umbruch mit unseren Mitarbeitern kulturell, wie beeinflusst er z.B. ihre Einstellung zur Arbeit?

Natürlich macht die Ambivalenz des digitalen Wandels keinen Bogen um die Unternehmenswirklichkeit. Einerseits fördern die neuen Technologien die Agilität von Organisationen und Menschen, andererseits erhöhen sie die Gefahr der Abschottung in Blasen und Echokammern (deswegen ist die Rede von Unternehmenskulturen angemessen!).

In beiden Singularitäts-Konzepten steckt die Aufforderung an Unternehmen, Technisches, Ökonomisches und Soziales neu auszubalancieren. Sowohl die Technisierung des Kulturellen als auch die „Kulturalisierung“ von Technik und Ökonomie können sich als Fallen auf der unternehmerischen Erfolgsspur erweisen.

Die Aufgabe besteht darin, die richtige Mischung zu finden zwischen festen Denk- und Handlungsstrukturen einerseits und fluiden/agilen Spielräumen andererseits. Definierte  Werte-Rahmen, Ziele-Transparenz und Verantwortungsklärung, z.B., sind Voraussetzungen für „Fluide Führung“, Selbstorganisation/Eigenverantwortung und die Entwicklung einer Lernenden Organisation.

Das eigentliche Paradox der Digitalisierung besteht nach meiner Einschätzung darin, dass wir künftig nicht weniger, sondern noch (oder wieder?) mehr auf den „subjektiven Faktor“ bauen müssen. Die – meinetwegen: singulären – Kompetenzen der Individuen wahrzunehmen und zum Zug kommen zu lassen, nicht zuletzt, um den digitalen Wandel intelligent steuern zu können – das ist die große Herausforderung. Für die Menschen im Unternehmen, nicht für den Maschinenpark.

So gesehen, könnten wir die Singularitäts-Metapher durchaus produktiv wenden – gegen den soziologischen wie gegen den technophilen, antihumanistischen  Kulturpessimismus.

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* „Verständnisfragen“ werden manchmal bei Veranstaltungen gestellt, um zu Wort zu kommen, obwohl Fragen eigentlich nicht zugelassen sind. Die Veranstaltung, in der wir uns alle zusammen gerade befinden, scheint zu diesem Typus zu gehören. Fragen sind unerwünscht, lästig, halten nur den Betrieb auf. Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff hat es 2009 so formuliert: Es bleibt keine Zeit mehr für Fragen, es reicht nur noch für Antworten. Ich nehme mir gerne einmal im Monat Zeit für aktuelle Fragen und für (gerne auch Ihre!) Antworten.

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